Zwangsverrentung als Falle im Sozialsystem
Zeitweise galt Hartz IV auch als Rettungsbecken für viele Soloselbständige und Künstler. Alle diejenigen, die durch die Raster der Corona-Finanzhilfen gerutscht waren, sollten hier monetäre Unterstützung erfahren. Dazu wurde sogar die Zugangsmöglichkeit vereinfacht, wenn auch nur für eine begrenzte Zeit. Später wurde bei den Hilfen nachgebessert, doch war das längst nicht für alle auch die Rettung. Die Zahl der Hartz IV- Empfänger kehrt nicht so schnell wieder zu ursprünglichen Größen zurück. Damit eröffnet sich aber auch ein weiteres Problem für die Bedürftigen, das seit jeher sträflich vernachlässigt wurde – die Zwangsverrentung.
Dabei war bereits 2016 vom auch schon damals SPD-geführten Arbeits- und Sozialministerium deren Abschaffung angekündigt worden. Ohnehin ist diese Praxis mit Blick auf das Demografieproblem in vielen Branchen völlig unverständlich.
Jährlich werden etwa zehntausend Empfänger von Hartz IV-Leistungen beim Erreichen des 63. Lebensjahres per Zwangsverrentung aufs Altenteil geschickt. Das geschieht, obwohl die Betroffenen dabei mit erheblichen Abschlägen zu rechnen haben und oft in der Altersarmut enden. Diese Verfahrensweise ist vom Gesetzgeber so gefordert. Das Sozialgesetzbuch verlangt in der Regelung des § 12a Satz 2 Nr. 1 SGB II verpflichtend die primäre Inanspruchnahme anderer Sozialleistungsträger.
Zwangsverrentung aus statistischen Gründen
Kritiker dieser Praxis sehen darin seit langem eine versteckt legale Möglichkeit, die Hartz IV-Statistik zu bereinigen. Damit entziehen sich nach ihrer Meinung die Jobcenter der gesetzlichen Pflicht zur besonderen Förderung und Eingliederung älterer Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen. Seit Einführung der Zwangsverrentung vor rund zehn Jahren hat sich die Zahl der betroffenen 63-Jährigen mehr als vervierfacht.
Mehr als die Hälfte aller Leistungsempfänger in diesem Alter erhält keine Angebote mehr von ihren Jobcentern. Um diese Problematik zu entschärfen, trat 2017 die Erste Verordnung zur Änderung der Unbilligkeitsverordnung in Kraft. Bezieher von Leistungen der Grundsicherung für Erwerbsfähige werden danach nicht mehr zum Eintritt in eine vorgezogene Altersrente mit Abschlägen verpflichtet, wenn die Höhe dieser Rente zur Bedürftigkeit, also zum Bezug von Grundsicherungsleistungen im Alter führen würde.
Kollision mit regulärem Renteneintritt
Doch damit sind längst nicht alle Probleme dieser Regelung zur Zwangsverrentung aus der Welt. So wird bei der gängigen Praxis auch völlig ignoriert, dass sich die Grenzen zum Eintritt in die abschlagsfreie Rente nach 45 Beitragsjahren kontinuierlich nach oben bewegen. Diese Ignoranz aber ist gesetzlich nicht gestützt, wie das Bundessozialgericht in einem entsprechenden Urteil zur Zwangsverrentung festgestellt hat (BSG, AZ: B 14 AS 1/18 R).
Im behandelten Fall wurde für einen Betroffenen die Zwangsverrentung eingeleitet, da er das 63. Lebensjahr erreicht hatte. Sein Eintrittsalter in die abschlagsfreie Altersrente nach 45 Beitragsjahren betrug aber inzwischen 63 Jahre und 4 Monate. Diese 4 Monate sollten ignoriert werden und der Betroffene damit einen dauerhaften Rentenabschlag von fast 10 Prozent in Kauf nehmen. Dagegen setzte er sich erfolgreich zur Wehr.
Nach § 3 der Unbilligkeitsverordnung müssen Arbeitslose keinen Antrag auf eine vorgezogene Abschlags-Rente stellen, wenn „in nächster Zukunft“ Anspruch auf eine Rente ohne Abschläge besteht. Die Regelung stellt eindeutig auf das Missverhältnis zwischen der Höhe der Abschläge im Rentenbezug einerseits und der vergleichsweise kurzen restlichen Bezugszeit von Leistungen der Grundsicherung bis zum Beginn der abschlagsfreien Altersrente andererseits ab. Daran gemessen ist eine zusätzliche Inanspruchnahme von Grundsicherungsleistungen von wenigen Monaten bei einer durchschnittlichen Rentenbezugsdauer von gegenwärtig nahezu 20 Jahren durchaus hinzunehmen.
Zwangsverrentung und Demografieproblem
In Anbetracht des Arbeitskräftebedarfs in vielen Bereichen der Wirtschaft, erscheint die Gesamtproblematik der Zwangsverrentung als überflüssig und aus der Zeit gefallen. Die Vermittlung in Arbeit muss endlich oberste Prämisse beim Handeln der Jobcenter werden. Das erfordert natürlich auch kreative Überlegungen und praxisorientierte Handlungsansätze. Eine neue Kultur der Arbeit jenseits des 60. Lebensjahres ist längst überfällig. Dauernde Schönheitskorrekturen an der Arbeitsmarktstatistik sind hingegen reines Blendwerk und schaden schlussendlich der gesamten wirtschaftlichen Kraft des Landes.