
Fragwürdiges in der 24-Stunden-Pflege
Seit Jahren grassiert die Mär vom Fachkräftemangel in der Pflege. Bei genauerer Betrachtung fällt aber auf, dass es hier eher ein krasses Übermaß unseriöser Angebote gibt. Immer mehr ausgebildete Pflegerinnen und Pfleger steigen deshalb frustriert aus dem Beruf aus. Dauernde Überstunden, ständige Nachtarbeit, Arbeitsbelastungen permanent über dem erträglichen Maß und eine Vergütung, die dem Ganzen nicht einmal annähernd gerecht wird – all das sind wesentliche Gründe für den Ausstieg aus der Pflege.
Ausstieg aus der Pflege wird zum Problem
Inzwischen wächst das Heer der Ehemaligen beträchtlich an, die sogar die Nachteile einer Arbeitslosigkeit nicht scheuen. Die meisten der Pflege-Aussteiger behalten sich die Option der Rückkehr in ihren Traumberuf vor. Doch dazu bedarf es einiger Anstrengungen am Markt. Die Politik hat das Problem bisher nicht verstanden und versucht die Personalprobleme in der Pflege mit der „Billignummer“ zu lösen. Ausländischen Fachkräften, vor allem solchen aus Osteuropa, wird der Markteintritt erleichtert. Die Ansprüche sind überschaubar. Das eröffnet Raum für äußerst fragwürdige Geschäftsmodelle in der Pflege.
Mit einem solchen Modell und den darin enthaltenen Widrigkeiten hat sich nun das Bundesarbeitsgericht beschäftigt (Az: 5 AZR 505/20), nachdem bereits das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg in dieser Sache verhandelt hatte (Az.: 21 Sa 1900/19). Das Ergebnis lässt aufhorchen und bringt diverse Geschäftsmodelle in der häuslichen Pflege in Bedrängnis.
Die Klägerin, eine bulgarische Staatsangehörige, wurde auf Vermittlung einer deutschen Agentur, die eine 24-Stunden-Pflege im eigenen Haushalt anbietet, von ihrem in Bulgarien ansässigen Arbeitgeber nach Deutschland entsandt, um eine hilfsbedürftige 96-jährige Dame zu pflegen. Im Arbeitsvertrag der Klägerin war eine Arbeitszeit von 30 Stunden wöchentlich vereinbart. Im Pflegevertrag mit der zu versorgenden Dame war eine umfassende Betreuung mit Körperpflege, Hilfe beim Essen, Führung des Haushalts und Leisten von Gesellschaft vereinbart. Das dafür in Aussicht gestellte Entgelt war für 30 Stunden wöchentlich kalkuliert. Es war vereinbart, dass die Klägerin in der Wohnung der zu pflegenden Dame wohnt und auch übernachtet. Faktisch wurde von ihr eine Rund-um-die Uhr-Bereitschaft erwartet.
Bereitschaft in der Pflege erfordert Mindestlohn
Mit ihrer Klage hat die Klägerin Vergütung von 24 Stunden täglich für mehrere Monate gefordert und zur Begründung ausgeführt, sie sei in dieser Zeit von 6.00 Uhr morgens bis abends 23.00 Uhr im Einsatz gewesen und habe sich auch nachts bereithalten müssen. Sie habe deshalb für die gesamte Zeit einen Anspruch auf den Mindestlohn. Der Arbeitgeber hat die behaupteten Arbeitszeiten bestritten und sich auf die arbeitsvertraglich vereinbarte Arbeitszeit berufen.
Das Gericht betrachtete die gesamte Vertragskonstruktion als widersprüchlich. So war dort zugleich eine tägliche Arbeitszeit von sechs Stunden und eine Sechs-Tage-Woche vereinbart. Das war schon rein rechnerisch mit den fixierten 30 Wochenstunden nicht vereinbar. Der Vertrag enthielt daneben eine Klausel, die eine Leistung von Überstunden ausschloss. Hingegen verpflichtete aber der Pflegevertrag die Klägerin zu Einsatz und Bereitschaft rund um die Uhr. Obwohl der Vertrag für das Wochenende einen freien Tag zusicherte, wurde von der Beschäftigten erwartet, dass sie sieben Tage in jeder Woche zur Verfügung steht.
Bundesarbeitsgericht spricht Grundsatzurteil
Das Landesarbeitsgericht hatte der Klägerin den geforderten Mindestlohn basierend auf einer täglichen Arbeitszeit von 21 Stunden zugesprochen. Dem folgte nun das Bundesarbeitsgericht vollumfänglich.
Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Berufung des Arbeitgebers auf die vereinbarte Begrenzung der Arbeitszeit auf 30 Stunden dann treuwidrig sein muss, wenn eine 24-Stunden-Pflege zugesagt ist und die Verantwortung sowohl für die Betreuung als auch die Einhaltung der Arbeitszeit der Klägerin übertragen wird.
Grundsätzlich ist es Aufgabe des Arbeitgebers, die Einhaltung von Arbeitszeiten zu organisieren. Die vereinbarte Zeit von 30 Stunden wöchentlich war für das zugesagte Leistungsspektrum im behandelten Fall unrealistisch. Die gerichtlich zuerkannte vergütungspflichtige Zeit ergibt sich daraus, dass neben der geleisteten Arbeitszeit für die Nacht von vergütungspflichtigem Bereitschaftsdienst auszugehen ist. Für die Klägerin war es jedoch zumutbar, sich in einem begrenzten Umfang von geschätzt drei Stunden täglich den Anforderungen zu entziehen. Deshalb erfolgte schlussendlich die Zugrundelegung einer vergütungspflichtigen Arbeitszeit von täglich 21 Stunden.
Fragwürdige Geschäftsmodelle auf dem Prüfstand
Mit dieser Entscheidung gerät ein Geschäftsmodell in die Bredouille, das sich in der jüngsten Vergangenheit förmlich verselbständigt hat. Gängige Standards fehlen in der Mehrzahl der Fälle einer 24-Stunden-Pflege, wo die Pflegekraft auch gleichzeitig mit im Haushalt wohnt.
Auswirkungen hat diese Entscheidung aber nicht nur auf die Agenturen und Vermittler der angeworbenen Pflegekräfte aus Osteuropa. Auch die vermeintlich Selbständigen im Bereich der 24-Stunden-Pflege könnten nun verstärkt ins Visier der Fahnder geraten. Der Verdacht der Scheinselbständigkeit drängt sich hier schon lange auf, was immer auch zu einer nachträglichen Feststellung der Sozialversicherungspflicht führen kann.
Bei konsequenter Umsetzung aller Standards des deutschen Arbeitsrechts auch im Bereich der häuslichen Pflege, könnte der Markt endlich wieder für ausgestiegene Fachkräfte interessant werden. Prekäre Modelle führen dann recht schnell ins Abseits, soweit auch die Politik endlich begreift, wo die eigentlichen Probleme liegen. Fraglich bleibt allein, ob derlei Unruhe im weitestgehend vernachlässigten Bereich der häuslichen Pflege auch gewollt ist.